Institute in Aufruhr

„Holt Euch die Universität zurück, denn sie gehört den Ordinarien nicht!“

aus dem Ruprecht, Nummer 37

Noch bis Ende der Siebziger Jahre war die Heidelberger Universität ein heißes Pflaster – und die Erinnerung daran verfolgt noch manchen an der Uni

Wenn der Professor im Fakultätsrat plötzlich mit den Worten „sie können hier als Student nicht alles sagen wie damals, 1977“ aufbraust; wenn sich bei der Frage, warum denn Prof. L. nach Berlin gegangen ist, plötzlich eine Mauer des Schweigens im Lehrkörper aufbaut; wenn der ergraute akademische Oberrat ein konspiratives „das lief hier schon ‚mal anders“ flüstert, dann merkt der unschuldig-junge Student, daß das Leben an der Ruperto Carola nicht immer so friedlich -geordnet dahinplätscherte – und daß das Trauma der wilden Zeiten auch heute noch manch einen Dozenten gefangenhält.

Die wilden Sechziger – sie waren in Heidelberg auch in den siebziger Jahren noch nicht ganz vorbei. Studentische Proteste und hochschulpolitische Auseinandersetzungen begleiteten das Leben an der Ruperto Carola auch nach dem Höhepunkt der „68er“-Bewegung, als deren Protagonisten schon ihren „Marsch durch die Institutionen“ angetreten, sich zersplittert oder resigniert hatten und an vielen anderen deutschen Universitäten in der Bundesrepublik wieder Frieden eingekehrt war.
Zwar gab es nur noch wenige koordinierte, die gesamte Universität umfassenden Aktionen – trotzdem verging auch in den siebziger Jahren kaum ein Semester, in dem nicht irgendwo in Heidelberg diskutiert, demonstriert und gestreikt, aber auch geprügelt und prozessiert wurde.
Und weil viele dieser Ereignisse nicht nur Studierende gegen Lehrende oder Minister stellen, sondern auch z.B. Professoren gegen Professoren oder Professoren gegen Mittelbau, beeinflussen diese längst vergangenen Tage das Klima an der Universität auch heute noch.

Nach 1972: Ernüchterung

Zu Beginn der siebziger Jahre war die Aufbruchstimmung der „68er“ eigentlich schon längst verflogen. Wenngleich die Reformer – Studierende und Teile von Mittelbau und Professorenschaft – einiges erreicht hatten, konnten sich keine dauerhaften Koalitionen bilden, die Weiteres durchgesetzt oder sich jenen entgegengestellt hätten, die das Rad wieder zurückdrehen wollten. Viele Studierende hörten auf, sich in der Hochschulpolitik zu engagieren, zogen sich resigniert auf Beobachterposten zurück oder etablierten sich (wenn sie z.B. schlicht und einfach ihr Studium abgeschlossen hatten) in dem System, das sie reformiert haben wollten. Längst gab es keine „Studentenbewegung“ mehr; der größere Teil der Studierendenschaft verfolgte das Geschehen an der Hochschule vielleicht noch mit Interesse, engagierte sich aber selbst nicht mehr. Aktiv wurde man höchstens, wenn es am eigenen Institut zur Sache ging. Hochschulgruppen verloren an Zulauf, zersplitterten oder radikalisierten sich: Selbst wenn sich auch 1973 und danach der größte Teil der Studierenden noch als bewußt links empfand – der Graben zwischen sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppen war so groß, daß man sich kaum auf gemeinsames Handeln verständigen konnte – und natürlich erst recht nicht mit Hochschulgruppen aus dem konservativen oder konservativ-liberalen Spektrum, wie dem RCDS oder der in Heidelberg auftretenden „Aktionsgemeinschaft Demokratischer Hochschulgruppen“ (ADH).

Die Grabenkämpfe lähmten die Durchsetzungskraft der Studenten vor allem auf der gesamtuniversitären Ebene. Sie verloren mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Die Studierendenvertreter konnten sich immer schlechter legitimieren: So sank die Wahlbeteiligung bei Uni- oder Fakultätswahlen in den meisten Fachbereichen kontinuierlich, z.B. von 40% im Jahre 1970 auf knapp 26% im Jahre 1976 bei uniweiten Wahlen. Die Zweifel, ob die jeweils „regierenden“ Hochschulgruppen wirklich einen wichtigen Teil der Studierendenschaft vertraten, wuchs nicht nur bei ihren Gegnern

Wo aber radikale Gruppen die Studierendenvertretungen beherrschten, verschlechterte sich auch das Verhältnis zu den reformfreudigen Lehrenden, mit denen Studierende zuvor noch gemeinsam Veränderungen an der Uni hatten durchsetzen können: So stimmten z.B. kommunistische studentische Gruppen in den Universitätsgremien in Heidelberg in den Jahren 1970-72 immer wieder gegen Vorschläge des liberalen Rektors Rolf Rendtdorff, weil auch er in ihren Augen ein „Scherge des Monopolkapitals“ war. Dadurch setzte sich letztendlich eine viel konservativere Richtung in den Senaten durch; erst recht, nachdem Rendtdorff 1972 resigniert zurückgetreten war. „Sie [die Kommunistische Hochschulgruppe] machte es uns schon mit ihrer Sprache unmöglich, gemeinsame Positionen zu bilden“, erinnert sich ein Akademischer Oberrat, „dabei wäre selbst Mitte der Siebziger noch einiges möglich gewesen“. Koalitionen in Gremien z.B. zwischen bestimmten Professoren, Assistenten und Studierenden, wurde immer seltener.

Nicht nur deswegen begannen auch viele jener Dozenten, die die Reformierung der Universität mitgetragen hatten, zu resignieren und sich aus der Hochschulpolitik, selbst vor Ort, zurückzuziehen. „Wir hatten den Widerstand gegen weitgehende Reformen in den ersten Jahren einfach unterschätzt; außerdem gab es zu viele, die Veränderung nur mit verbalem Wohlwollen und nicht mit aktiver Unterstützung begleiteten“, meint dazu ein Professor der Neuphilologischen Fakultät.

So konnten sich auch in Heidelberg (dessen Universität auch in den siebziger Jahren noch teilweise als „rot“ galt) mehr und mehr jene durchsetzen, die die Reformen wieder zurückdrehen wollten und vor allem den Einfluß der Ordinarien, der ordentlichen Professoren also, wieder stärken wollten. Viele von ihnen organisierten sich im 1970 gegründeten „Bund Freiheit der Wissenschaft“, einem konservativen Hochschulverband, der sich in jener Zeit zum Ziel gesetzt hatte, vor allem an sogenannten „roten“ Universitäten wie Heidelberg, Bremen oder Marburg den Einfluß linker Dozenten und Studenten zurückzudrängen. Gerade deshalb aber hatte der „Bund“ eine besonders große Anhängerschaft in Heidelberg und bald begannen seine Miglieder, die Unipolitik entscheidend mitzubestimmen.

1972: Wende zurück

Ein erster Wendepunkt in diese Richtung war der bereits erwähnte Rücktritt des Heidelberger „Reform“-Rektors Rendtdorff 1972. Er hatte versucht, die unruhige Universität durch einen progressiven Kurs zu beruhigen. Damit geriet er aber – z.B. im Falle des Sozialistischen Patientenkollektives 1970/71 (siehe ruprecht Nr. 35) – im Gegenteil immer stärker zwischen die Fronten radikaler Studierender und konservativer Professoren. Die Auseinandersetzungen um seine Amtsführung wurden in Universität, Stadt und sogar im Fernsehen ausgetragen: Das SPD-Mitglied Rendtdorff bekam seinen festen Platz im konservativen „ZDF-Magazin“. Am Ende wählte ihm der Große Senat Prorektoren an die Seite, die er nicht gewollt hatte.

Sein Nachfolger Hubert Niederländer, ebenso wie dessen Nachfolger Mitglied des „Bund Freiheit der Wissenschaft“, leitete sofort einen neuen, harten Kurs ein. Er sorgte dafür, daß mehr und mehr Studierende, die sich an Streiks, Vorlesungssprengungen und Institutsbesetzungen beteiligt hatten, diziplinar- oder strafrechtlich verfolgt wurden: Während Rendtdorff immer wieder bereit gewesen war, auch über Gesetzesverletzungen hinwegzusehen, um die Auseinandersetzungen innerhalb der Universität zu lösen und nicht weiter anzuheizen, wollte Niederländer die Universität durch einen harten Kurs gegenüber Störern, oder solchen, die es seiner Meinung nach waren, befrieden. Sein Erfolg war zunächst gemischt; am Ende seiner Amtszeit im Jahre 1979 aber hatte er an der Universität tatsächlich in der einen oder anderen Weise für Ruhe gesorgt.

An der Juristischen Fakultät z.B. kehrte nach heftigen Auseinandersetzungen in den Jahren 1970 bis 1973 (sowohl 1970 als auch 1972 war die Lehrtätigkeit zweitweilig eingestellt worden) zunächst wirklich Ruhe ein. Allerdings wurden nicht nur radikale Gruppen verdrängt, auch viele gemäßigte Studierende zogen es fortan vor, zu schweigen und zu studieren. Selbst eine Fachschaft gab es dort bis 1979 nicht (und Wahlen dazu wurden vom Rektorat im gleichen Jahr mit Strafanzeigen bekämpft).

1976: Germanisten

Am Germanistischen Seminar hingegen führte der gleiche harte Kurs (den Niederländer natürlich nicht alleine verfolgte; viele der damals an der Unipolitik Beteiligten hielten ihn gar nicht für die treibende Kraft, eher für eine Frontfigur) in den Jahren 1976 und 1977 zu einer Eskalation der Situation: Nachdem die Studiensituation für viele Studierende und Lehrende schon kaum erträglich geworden war (mehr Studierende, weniger Dozenten; das kennen wir ja von heute), erregte die geplante Einführung von Klausuren in Mittelhochdeutsch sie. Auf einer Versammlung beschlossen die Studierenden, die Klausuren zu boykottieren. Diskussionen um deren Sinn mit dem Lehrkörper ergaben kein Ergebnis: Dozenten, die der Argumentation der Studierenden folgen wollten, setzten sich nicht durch, andere waren befremdet vom Auftreten der Studierendenvertreter. Bald drangen die Streikenden auch in Vorlesungen ein, um Dozenten und Professoren zu einer Diskussion über die Klausuren zu zwingen. Zudem versuchten sie, Klausuren, die angesetzt waren, auch durch Besetzung der Räume zu sprengen. Verschiedene Dozenten, darunter die betroffene Lehrstuhlinhaberin Roswita Wisniewski – damals frischgebackene CDU-Bundestagsabgeordnete – holten in mehreren solchen Situationen die Polizei. Die ging nicht zimperlich vor. Die zunehmende Schärfe der Auseinandersetzungen erschwerte auch die Verhandlungen von Studierendenvertretern mit den Lehrenden. Nachdem Rektor Niederländer die ersten Relegationen (Verweise von der Universität) von zwei bis vier Semester ausgesprochen hatte und Strafanzeige gegen wirkliche und vermeintliche Streikführer gestellt hatte, verschlechterte sich das Klima am Seminar immer mehr.

„Die Klausuren wären nicht nötig gewesen“, sagt ein Akademischer Oberrat heute, „und das ist eine Meinung, die auch damals im Kollegium unter normalen Umständen mehrheitsfähig gewesen wäre. Aber damals wollten sich einige eben durchsetzen. Das – und das kompromißlose Auftreten einiger Studentenvertreter – hat eine einvernehmliche Lösung damals verhindert“.

Die Unfähigkeit, Kompromisse zu finden, stürzte das Seminar für mehr als ein Semester ins Chaos: Nachdem Studierende immer mehr Vorlesungen gesprengt und sich in der Lobby des Seminares zum Teil bedrohliche Situationen abgespielt hatten, schloß die Institutsleitung das Seminar. Die Studierenden empfanden das als Provokation und versuchten, dennoch einzudringen. Ein (immer) größer angelegtes Polizeiaufgebot schützte nun das Gebäude; damit aber wurde der Konflikt über die instituts- und uniinterne Öffentlichkeit hinaus in die Stadt getragen: Bei einem Demonstrationszug durch die Altstadt bekam auch der damalige Oberbürgermeister Zundel, der nicht gerade als studentenfreundlich galt, Eier und Tomaten ab, als er vom Rathausbalkon lugte. Die Lokalpresse nahm sich des Konfliktes an; vor allem die Rhein-Neckar-Zeitung aber aus der „Recht & Ordnung“-Perspektive. Nachdem inneruniversitäre Auseinandersetzungen schon in der Ära Rendtdorff auf den Lokalseiten und in den Leserbriefspalten von Rhein-Neckar-Zeitung“ und „Heidelberger Tageblatt“ ausgetragen worden waren, sorgte auch hier die Berichterstattung nicht für eine Beruhigung der Situation. Die Studierenden, die sehr viel schlechter an Platz in der Lokalpresse kamen, wehrten sich mit Flugblättern.

Der Solidarisierungseffekt, den die harte Haltung von Rektorat und Institutsleitung zunächst hervorgerufen hatten, hielt einige Monate. Ihr Ziel, auch die Mehrheit des Mittelbaus am Germanistischen Seminar und einige Professoren auf ihre Seite zu ziehen, erreichten die Studierenden aber gerade wegen der Eskalation des Konfliktes nicht: In einer solchen Situation glaubte es sich kaum ein Lehrender leisten zu können, sich „auf die andere Seite“ zu stellen. Dazu kam der immer wieder geschürte Verdacht, daß die Studentenproteste letzlich nur von einer kleinen Gruppe von Agitatoren der Kommunistischen Hochschulgruppe (KHG) und des Marxistischen Studentenbundes (MSB Spartakus) organisiert worden waren, die zudem auch nicht einmal am Germanistischen Seminar, ja noch nicht einmal in Heidelberg studierten. Die meisten „Ehemaligen“ allerdings, damalige Studenten wie Dozenten, geben heute zu, daß die „Roten“ zwar eine wichtige Rolle gespielt hatten, aber sicher nicht die alleintragende Kraft waren.

Nach einem halben Jahr verlor die Streikbewegung an Dynamik. Nach und nach wurden einige Klausuren geschrieben und der Mediävistik-Lehrstuhl von Prof. Wisniewski setzte sich durch. Das Semester aber hatte das Klima am Germanistische Seminar grundlegend gewandelt: „Seit damals trauen sich viele im Kollegium nicht mehr so recht, zu sagen, was sie denken“, meint einer der damals im Lehrkörper Beteiligten, „oder was ich glaube, daß sie denken. Es ist einfach klargeworden, wer hier etwas zu sagen hat und wer resigniert hat“.

Gegen fünfzehn Studierende wurden Strafverfahren eingeleitet; 3 von ihnen wurden wegen Beleidiung, Nötigung, Haus und Landfriedensbruch in langen Prozessen zu Haftstrafen bis zu 23 Monaten ohne Bewährung verurteilt.

1977: Mediziner

Schon 1976 hatten Medizin-Studierende in Heidelberg auf die Einführung von Klausuren mit Vorlesungsstreik reagiert. Die Proteste verschärften sich im Sommersemester 1977, als die bundesweite Fachtagung Medizin Urabstimmungen und Streiks beschloß, um gegen die Bedingungen des neu eingeführten „Praktischen Jahres“ anzugehen, das sich an das Medizinstudium anschließt und in dem die Studierenden einen sehr viel schlechteren Status hatten als bis dahin in der Phase als Assistenzarzt. Nirgendwo reagierten die Universitäten so hart wie in Heidelberg: Mit größeren Polizeiaufgeboten, Relegations- und Strafandrohungen gelang es dem Rektorat tatsächlich, den Streik nach drei Wochen zu beenden. Nur in Heidelberg gab es Strafanzeigen und Prozesse gegen Medizin-Aktivisten.

1978: Mathematiker

Erfolgreicher für die Studierenden war eine Streikserie, die ein Jahr später am Mathematischen Institut stattfand. Auch hier ging es um die Einführung von Klausuren, auch hier versuchten Studierendenvertreter, dies durch Streik, Vorlesungssprengung und Demonstrationen zu verhindern.

Die Reaktion hier war allerdings viel gespaltener als bei den Germanisten: Man diskutierte im Fakultätsrat, man beschwichtigte, vermittelte, beriet. Trotzdem eskalierte auch hier die Situation nach Provokationen einiger Studierender und ruppigem Verhalten betroffener Professoren: Bald standen auch hier Uni-Rausschmisse, Strafanzeigen und Ordnungsverfahren auf der Tagesordnung. Auch hier sahen sich die Fachschafter dem Vorwurf ausgesetzt, der Streik würde von einer kleinen Gruppe radikaler Agitatoren inszeniert und ausgenutzt – selbst wenn die betroffenen Vorlesungen sogar von systemtreuen Jungakademikern gemieden wurden. Die Initiative zum „Durchgreifen“ aber ging vor allem vom scheidenden Rektor Niederländer aus, der Anzeigen auch noch aufrecht erhielt, als fast alle Professoren der Mathematischen Fakultät ihre eigenen Anzeigen zurückziehen wollten. Es kam zu Verurteilungen, allerdings in fast allen Fällen „nur“ zu Bewährungsstrafen. Die Klausuren selbst wurden tatsächlich nicht eingeführt. Gleichwohl versuchten Professoren in den darauffolgenden Jahren noch öfter, sie schreiben zu lassen, bislang aber ohne Erfolg.

Danach: Ruhe

Es sollte vorläufig letzte Mal sein, daß die „Rote Universität“ Heidelberg in den Schlagzeilen war. Es folgten die Prozesse, die sich bisweilen ein Jahr lang hinzogen und von denen einige bis zum Bundesgerichtshof gingen. An der Universität selbst gab es noch Konflikte um die Gründung der uns heute ziemlich selbstverständlichen Fachschaften (und natürlich Prozesse). Aber insgesamt kehrte wieder Ruhe und Ordnung im Neckarstädtchen ein.

Dazu trug auch bei, daß 1977 in Baden-Württemberg die „Verfaßte Studentenschaften“ als rechtlich eigenständige Studierendenvertretungen abgeschafft und durch ein macht- und mittelloses Anhängsel des Großen Senates ersetzt worden waren, denen kein eigenverantwortliches Handeln mehr erlaubt wurde. Noch einmal hatten diese im Mai 1977 eine großen Demonstration gegen die Strafverfahren organisiert, die mit 9.000 Teilnehmern die größte in Heidelberg überhaupt wurde.

Selbst mehr als 10 Jahre danach, im „Unimut“-Semester 1988/89, griffen die bundesweiten studentischen Proteste spät und schwächlich auf die Ruperto Carola über (davon wird der vierte Teil unserer Serie erzählen). Aber der Mythos vom unruhigen Heidelberg hält sich noch in einigen Köpfen: Die Heidelberger Studierendenvertretung bekommt auch heute noch pro Kopf weniger Landesmittel als Unversitäten, die schon damals als friedlich galten; ein Ministerialbeamter hat dies noch vor wenigen Jahren offen mit politischen Gründen erklärt.

Wunden.

Natürlich waren die Auseinandersetzungen der siebziger Jahre nicht überall in Heidelberg gleich bitter. Aber an einigen Instituten haben tatsächlich Wunden hinterlassen, die selbst der damals gerade geborene Studierende heute noch merkt (auch wenn er sich oft gar nicht erklären kann, was denn diesen oder jenen Professor oder Oberrat plötzlich so aufbringt, oder warum Prof. X nicht mit Dozent Y. redet). „Das Klima am Germanistischen Seminar, vor allem unter den Lehrenden, hat sich nachhaltig verändert“, sagt einer, der 1977 Angehöriger des dortigen Mittelbaus war, „und die Leute, die das Seminar damals verlassen haben, sind nicht nur wissenschaftlich attraktiveren Rufen gefolgt“.

Die Mathematikerstreiks hingegen waren begrenzt, große Teile des Kollegiums schon damals konzilliant und nachdenklich. Deshalb haben die Auseinandersetzungen dort kaum Spuren hinterlassen, selbst wenn dort immer noch fast jedes Jahr um die „Klausurenfrage“ gerungen wird. Aber auch an der Fakultät für Mathematik reden einige nicht gerne über alte Zeiten.

Insgesamt haben seit Beginn der siebziger Jahre nicht nur die Studierenden, sondern auch der akademische Mittelbau und auch die „niedrigen“ C3-Professoren (also die Nicht-Ordinarien) in der Universität wieder an Einfluß verloren; viele Dinge, die in diesen Zeiten noch in den Fakultäten „ausdiskutiert“ wurden, sind heute wieder Sache der Ordinarien – selbst die Einführung von „Institutsbeiräten“ zur stärkereren (beratenden) Beteiligung des Mittelbaus in den Instituten stößt im Moment auf Widerstand in Senat und Rektorat.

Die Härte und die Emotionen, mit denen Auseinandersetzungen geführt werden, können aber schon deshalb heute nicht mehr so groß sein, weil Studierende ein viel buntererer, unkoordinierterer Haufen sind, die ihren Lebensschwerpunkt zum großen Teil nicht mehr an der Uni haben und auch sich auch politisch-ideologisch nicht mehr so straff organisieren lassen. Der Mittelbau wiederum muß sich mehr und mehr von Zweijahresvertrag zu Zweijahresvertrag hangeln.

Und da wir ohnehin alle schneller studieren sollten, bleibt heutzutagenicht mehr sehr viel Zeit für die Revolution.

(hn)

„Jeden Tag ein neuer Brand“

Streiks, Demonstrationen, Strafverfahren in Heidelberg in den siebzigern (eine Auswahl)

1972/73:
Auseinandersetzungen am Juristischen Seminar;
Besetzung des Rektorats durch Mitglieder der Kommunistischen Hochschulgruppe

1975
Demonstrationen gegen die Erhöhung der Straßenbahnpreise in Heidelberg, maßgeblich organisiert von kommunistischen Hochschulgruppen; starke Polizeieinsätze, Auseinandersetzungen

1976:
Streik der Germanisten; Institutsschließung; schwere Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten;
Warnstreik von Medizinern

1977:
Im Sommersemester Streiks, Vorlesungsboykotte, und Demonstrationen an der Medizinischen Fakultät
Demonstrationen gegen die Abschaffung der Verfaßten Studentenschaft; im Mai erlebt Heidelberg seine mit etwa 8000 Leuten größte Demonstration, auf der die Studierenden gegen die zahlreichen eingeleiteten Strafverfahren protestieren;

1978:
Klausurenboykott an der Mathematischen Fakultät;
Im März gewaltsame Räumung des selbstverwalteten Studentenwohnheimes „Collegium Academicum“, das für die einen Symbol studentischer Autonomie, für die anderen Symbol studentischen Radikalismus‘ ist

1979:
Auseinandersetzungen um Wahlen für eine Fachschaft an der Juristischen Fakultät

„Mit aller Härte des Gesetzes“

Straf- und Ordnungsverfahren gegen Studierende

  • 150 Verfahren wurden insgesamt in den Jahren 1975-1980 angestrengt, 450 Strafanzeigen gestellt.
  • 50 Relegationen von der Uni für bis zu vier Semester erhalten Studierende
  • 15 Germanisten werden zu Geldstrafen und /oder Haftstrafen bis zu 23 Monaten verurteilt
  • 6 Juristen und 10 Mediziner und 15 Mathematiker bekommen Geld- oder Bewährungsstrafen
  • In allen anderen Universitätsstädten des Landes werden zusammen 10 Strafanzeigen gestellt.

Im nächsten ruprecht: Die Schließung des selbstverwalteten Studentenwohnheimes „Collegium Academicum“ kündigt das Ende der unruhigen Zeiten an.