aus dem Ruprecht, Nummer 35
Neue Ruprecht-Serie: Revolte in Heidelberg
Wer „Studentenbewegung“ sagt, meint meistens nur: 1968. Nicht so der ruprecht. In einer vierteiligen Serie, die in dieser Ausgabe beginnt, beschäftigen wir uns im Schwerpunkt mit – gänzlich unterschiedlichen – Formen studentischer „Revolte in Heidelberg“ während der 70er Jahre: mit dem „Sozialistischen Patienten-Kollektiv“ 1970/71, den Unruhen bei Mathematikern, Juristen und Germanisten in der Mitte des Jahrzehnts sowie dem Ende des „Collegium Academicum“ 1978, das auch das Ende der Revolte signalisiert. Ein abschließender Artikel blickt zurück auf die pragmatischeren 80er Jahre, auf den „Unimut“-Winter 1988/89.
„Aus der Krankheit eine Waffe machen!“
Wo aus Psychiatrie-Patienten Revolutionäre werden sollten – das Sozialistische Patientenkollektiv SPK (1970/71)
Jean-Paul Sartre war „außerordentlich beeindruckt“. Der deutsche Staatsschutz war anderer Meinung: Für ihn war das im Februar 1970 gegründete „Sozialistische Patientenkollektiv“ („SPK“) keine Selbstorganisation von Psychiatrie-Patienten, sondern eine kriminelle Vereinigung. Fest steht: In den gerade mal 17 Monaten seiner umkämpften Existenz radikalisierte sich das antipsychiatrisch-revolutionäre Kollektiv bis hin zur Bewaffnung, und nach seinem Ende schlossen sich über ein Dutzend seiner Mitglieder dem bewaffneten Kampf der „Rote-Armee-Fraktion“ („RAF“) an, der in den folgenden Jahren die Republik erschüttern sollte. Doch mit diesen Feststellungen ist die Geschichte des SPK kaum zur Hälfte erzählt.
Es ist das Jahr, in dem sich die Beatles trennen. Die Amerikaner marschieren in Kambodscha ein, Alexander Dubceks Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ scheitert, Willy Brandt fällt im Warschauer Ghetto auf die Knie, Peter Handke veröffentlicht „Die Angst des Torwarts beim Elfmeter“, in deutschen Gazetten ist häufig von Oswald Kolle die Rede. Und: Im Frühjahr dieses Jahres 1970, als das SPK seinen Anfang nimmt, treibt die Studentenrevolte gerade ihrem Ende zu. Im Rückblick auf diese Zeit wird das linke „Kursbuch“ 1985 schreiben: „Wenn ein gewitzter Staatsschützer (damals) ein Mittel gesucht hätte, um die Protestbewegung zu paralysieren, so hätte ihm nichts Bessereres einfallen können, als was die Bewegung sich selbst verordnete: die ‚Proletarische Wende‘, die Schulungskurse, die Marx-Exegese, die Organisationsdebatten, die Parteigründungen. Es war, trotz aller Märsche, der Stillstand der Bewegung, ihr Zerfall.“
Längst ist die Masse der politisierten Studenten, die selbst in der Hoch-Zeit der Bewegung eher eine (starke) Minderheit waren, an ihre Schreibtische zurückgekehrt. Viele ziehen sich in Wohngemeinschaften, Kneipen, Kinderläden, Selbsthilfegruppen, selbstverwaltete Betriebe, die SPD zurück. Die lange gepflegte Gewißheit, daß die ersehnte Revolution vor der Tür stehe, weicht bei nicht wenigen Linken dem schleichenden Gefühl, daß sie, wenngleich letztlich unaufhaltsam, doch noch eine Weile auf sich wird warten lassen.
Auch in der Heidelberger Provinz zeigt die einstmals so mächtig auftretende Studentenrevolte in diesem Jahr 1970 ein Bild der Erschöpfung: „Die Bewegung war in einer Sackgasse“, wird sich der Heidelberger Altlinke Dietrich Hildebrandt erinnern. „Wir konnten noch verhindern, daß bestimmte Professoren Vorlesungen hielten, wußten aber nicht, wohin damit.“ Ende November spaltet sich die Heidelberger Sektion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, der die Bewegung einst vorangetrieben hat; Hildebrandt: „Freundschaften zerbrachen, Wohngemeinschaften gingen in die Brüche.“ In der Folge lassen sich die Studenten noch gelegentlich zu – teilweise spektakulären – Aktionen mobilisieren, aber, so Hildebrandt, „von den selbstgesteckten Zielen wirklich etwas erreicht hatte die Bewegung nicht“.
Die Schwäche der Revoluzzer bleibt ihren Gegnern nicht verborgen: Die Landesregierung, voran Kultusminister Wilhelm Hahn, will jetzt endlich gegen die Radikalen an den Universitäten vorgehen. Ein konservatives rollback beginnt und findet im „Radikalenerlaß“ zwei Jahre später, den auch die SPD mitträgt, einen seiner Höhepunkte. In seinem Buch „Der Untergang von Heidelberg“ wird der Heidelberger Schriftsteller Michael Buselmeier 1981 formulieren: „Die liberalen Freiräume vor allem an der Universität, die uns 1968 beinahe kampflos zugefallen waren, wurden nun Zug um Zug unter Knüppelschlägen und Drohungen wieder kassiert.“
Während die Reste der Studentenbewegung derart mit sich selbst beschäftigt sind und das „System“, wie es damals Mode wird zu sagen, sich zum Widerstand aufrappelt, findet die Revolte neue Wege: Am 2. März 1970 beziehen der Arzt Dr. Wolfgang Huber, drei Kollegen (darunter seine Frau Ursula) und 40 ehemalige Patienten der Psychiatrischen Poliklinik eine 4-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß der Rohrbacher Straße 12, richten Therapieangebote und Arbeitskreise ein – das „Sozialistische Patientenkollektiv“ („SPK“) ist geboren.
Die Klinik hat den 35jährigen Assistenarzt Huber nach langen Streitereien entlassen; der Vorwurf: er verweigere die Zusammenarbeit und mißbrauche seine Gruppentherapie zur „Aufhetzung von Patienten gegen die Klinikleitung und die übrigen Mitarbeiter der Poliklinik“ sowie zu politischer Agitation. Gespräche hat Huber abgelehnt; er erklärt, er müsse sich um seine Patienten kümmern. Viele von ihnen haben sich auf einer Vollversammlung – der ersten in der Geschichte der Bundesrepublik – mit ihm solidarisiert; gut drei Dutzend haben mit ihm die Klinik verlassen und von Rektor Prof. Rolf Rendtorff eine Woche später per Hungerstreik Zusagen erzwungen: Die Universität finanziert der Gruppe das Quartier in der Rohrbacher Straße (und bezahlt Hubers Gehalt); Voraussetzung ist, daß der Arzt die begonnenen Behandlungen bis Ende September dort abschließt. Um einen Vertrag wird lange gestritten; einer der Gründe für den Hader: Statt sich selbst abzuwickeln, öffnet sich das SPK für mehr Patienten; zeitweilig versorgt es angeblich bis zu 500 Menschen, nicht mehr vor allem Studenten, sondern zunehmend auch Arbeiter, Schüler, Angestellte.
Revolution.
Wofür das Kollektiv in den nächsten Monaten mit Flugblättern, teach-ins, einer Petition an den Landtag und allerhand anderen Aktionen streitet, ist ein therapeutisches Experiment, das eine ganze Reihe von Impulsen – Hegelsche Dialektik, Marxismus, Freudsche Psychoanalyse, Wilhelm Reich, Antipsychiatrie, die anti-institutionelle Studentenbewegung – aufnimmt und sogar nach den Maßstäben der damaligen Zeit, die an Umbrüchen wahrlich reich ist, gewagt daherkommt: „Genossen!“, heißt es da griffig im SPK-„Patienten-Info Nr. 1“ vom Juni 1970. „Es darf keine therapeutische Tat geben, die nicht zuvor klar und eindeutig als revolutionäre Tat ausgewiesen worden ist.“ Tatsächlich ist Hubers Therapiemodell immens politisch – aber das ist ja auch sein Grund-Credo: „Krankheit“, so erklärt das SPK, „ist kein Vorgang im einzelnen Menschen, krank ist unsere Gesellschaft“; was ‚Krankheit‘ genannt werde, sei eigentlich der „individuelle bewußtlose Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche“ im Kapitalismus. Dieser produziere Krankheit, um Kapital zu schaffen – ein Vernichtungssystem, in dem auch die Medizin, insbesondere die Psychiatrie, ihre Funktion habe: „Sie stellt den Kranken für den Arbeitsprozeß wieder her, so daß er wieder Mehrwert produzieren kann. (Der Arbeiter) kommt schon als Zerstörter in die Klinik und wird dort vollends verstümmelt.“
Aus dieser Analyse gibt es für das SPK nur eine Konsequenz: „Im Sinne der Kranken kann es nur eine zweckmäßige bzw. kausale Bekämpfung ihrer Krankheit geben, nämlich die Abschaffung der krankmachenden privatwirtschaftlich-patriarchalischen Gesellschaft.“ Während die traditionelle Psychiatrie darauf aus sei, den Kranken an Verhältnisse wiederanzupassen, die ihn doch gerade krank gemacht haben, zielt der SPK-Ansatz auf „Emanzipation“: Der Kranke soll seine scheinbare Schwäche Krankheit produktiv machen, sie aus einem „bewußtlosen Unglück“ in ein „unglückliches Bewußtsein“ verwandeln, das die Ursache seines Elends erkennt. Die gewünschte Folge: „Der Leidensdruck als subjektive Notwendigkeit der Veränderung wird politisch“, die Krankheit produziert „ihr eigenes Gegenteil, die Revolution.“
Damit ist das SPK in der historischen Situation, in der sich die Linke 1970 befindet, ebenso eine Antwort auf die Lenin’sche Frage nach dem „Was tun?“ wie andere Gebilde, die in jener Zeit aus der Konkursmasse der Studentenbewegung entstehen: das Heer von Gruppen und Grüppchen maoistischer, leninistischer, trotzkistischer Ausrichtung etwa oder die terroristische RAF. Die Linke sucht schon lange nach dem, was sie das „revolutionäre Subjekt“ nennt: dem potentiellen Träger der Revolution. In der Enttäuschung darüber, daß sich das ursprünglich für diese Rolle ausgeguckte Proletariat mit dem Aufstand noch Zeit läßt, hat ein Teil der Linken gar zur sogenannten Randgruppen-Strategie gegriffen: der Idee, daß soziale marginalisierte Gruppen wie Heimzöglinge oder randständige Jugendliche aus ihrer verschärft unterprivilegierten Situation heraus besonders als Ausgangspunkt der Umwälzung taugen. Das SPK nun lokalisiert das revolutionäre Subjekt in einer Gruppe, die es zunächst als Avantgarde begreift: in den Kranken, die die Widersprüche des Systems am sinnlichsten erfahren. „Revolution machen“, so heißt es im „Info“ Nr. 38, „können nur die, die begriffen haben, daß sie nichts als ihr krankes, gebrochenes Dasein zu verlieren haben.“ Schnell aber erweitert das SPK seine Randgruppen- zur Universal-Strategie: „Wir sind alle krank“ – potentieller Revolutionär: jedermann.
Um solche Theorien und das weitere Schicksal des SPK entbrennt nicht nur eine öffentliche Debatte, sondern auch ein regelrechter Gutachterkrieg: Auf SPK-Seite sprechen sich drei von Rendtorff kontaktierte Wissenschaftler – unter ihnen der Sozialpsychologe Prof. Peter Brückner aus Hannover – dafür aus, das Kollektiv, gegebenfalls als universitäre Einrichtung, fortzuführen. Auf der anderen Seite verurteilt die etablierte Universitätsmedizin in der Person des Klinikchefs Prof. Walter von Baeyer und zweier auswärtiger Professoren – ausschließlich auf der Grundlage des Aktenstudiums – das Konzept des SPK als „unwissenschaftlich“ und für Patienten „ausgesprochen schädlich“. Es sei „durchaus denkbar“, schreibt etwa der Ulmer Gutachter Prof. Hans Thomae, daß sich die Mitgliedschaft im SPK „therapeutisch“ auswirken werde – „ebenso wie es für manche Menschen hilfreich sein kann, Angehörige einer Sekte zu werden“; wie seine Kollegen rät auch er heftigst davon ab, die „Utopie von wahnähnlichem Charakter“ an der Hochschule zu institutionalisieren.
Kollektiv.
Derweil läuft in der Rohrbacher Straße die ganz andere Therapie des SPK sieben Tage in der Woche, von 9 Uhr morgens bis 10 Uhr abends oder noch länger – in Einzelsitzungen, die jetzt „Einzelagitationen“ heißen, und in 10 bis 12 Gruppen, den „Gruppenagitationen“, mit jeweils einem Dutzend Teilnehmer. Drei wissenschaftliche Arbeitskreise – „Dialektik“; „Marxismus“; „Sexualität, Erziehung, Religion“ – sollen die theoretischen Grundlagen für die Agitationen liefern; als Texte werden u.a. Hegel, Marx sowie Lukács benutzt. „ärzte“ gibt es im SPK nicht mehr, sondern nur noch „Träger ärztlicher Funktionen“, will man das Arzt-Patient-Verhältnis als Ausdruck der „Objektrolle“ des Patienten doch aufheben; stattdessen soll „jeder Patient Therapeut seiner selbst und anderer Patienten“ werden.
Obwohl das SPK monatelang unter dem Schatten der drohenden Schließung existiert, ist es für viele Mitglieder – Revolution hin oder her – offenbar eine bereichernde Erfahrung. Ein Ehemaliger wird 1992 in der Zeitschrift „brennpunkte“ zurückdenken: „Man sah an anderen und hat es auch in sich selbst gespürt, daß es möglich war, angstfrei Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Man konnte im SPK erleben, daß (Kollektivität) etwas sehr Befreiendes, Befriedigendes und Vielversprechendes ist und keineswegs einen Gegensatz bildet zu individueller Entwicklung.“ Auch die drei Pro-SPK-Gutachter, die das Kollektiv besichtigen, bestätigen zumeist diese Darstellung. Dr. Dieter Spazier etwa, Heidelberger Facharzt für Psychiatrie, hält fest, es sei „erstaunlich, wie besonnen, gegenseitig verständnisvoll und soziabil, dabei vor allem auch leistungsfähig“ das Kollektiv trotz seines unsicheren Status arbeite.
Freilich: Einem der SPK-Befürworter, dem Gießener Psychosomatiker Prof. Horst Eberhard Richter, fällt im Verhalten des Kollektivs auch Beunruhigendes auf: „Es hat sich anscheinend unter dem Einfluß eines gruppendynamischen Prozesses ein regelrechtes kollektives Ich gebildet. Der Glaube an die überragende therapeutische Qualität und an den politischen Stellenwert des Unternehmens ist für die Anhänger kaum noch diskussionsfähig.“ Richter schließt mit den Worten: „Ein direkter revolutionärer politischer Kampf auf der Basis gruppentherapeutischer Krankenbehandlung wäre nichts als eine Absurdität“ – doch genau in diese Richtung treibt die Entwicklung.
Seit Herbst 1970 nämlich spitzt sich die Auseinandersetzung zu. Im September schlägt sich Minister Hahn auf die Seite der SPK-Gegner und untersagt der Universität Heidelberg „aus medizinischen und rechtlichen Gründen“, das „Provisorium“ SPK weiterhin zu unterstützen. Von der Gegenseite verlautet prompt in einem „Info“: „Das SPK wird sich allen ‚Beendigungsversuchen‘ – von welcher Seite auch immer – nicht kampflos unterwerfen.“
Kampf.
Bald besitzt das Kollektiv auch an der Universität keinen Verbündeten mehr: Dem Rektor, der bemüht ist, Polizeieinsätze in der Hochschule zu vermeiden, sind durch die Weisung des Ministers die Hände gebunden; die private Finanzierung für das SPK, um die er sich bemüht, lehnt das Kollektiv ab – und läßt es sich nicht nehmen, Rendtorff öffentlich als „Judas“ und Schlimmeres zu beschimpfen. Doch auch unter den linken Studenten hat das SPK wenig Unterstützung. Dietrich Hildebrandt, zu jener Zeit Vorsitzender des AStA, meint heute: „Das SPK hat uns so erfahren, wie sie das Rektorat auch erfuhren – als eine verhaßte Autorität.“ Michael Buselmeier, damals auch politisch aktiv, räumt ein: „In vielen Fragen waren wir vom SPK gar nicht so weit entfernt, wir dachten nur, die sind ein bissl verrückt, die machen alles falsch.“ Ein anderer Aktivist denkt an Begegnungen mit Dr. Huber zurück: „Ich könnte mich nicht erinnern, daß es zwischen uns jemals zu einer Kommunikation gekommen wäre.“
Derart „isoliert“ (Buselmeier), zieht sich das SPK wohl immer stärker in sich selbst zurück. Was genau in diesen Monaten seit Herbst 1970 im Kollektiv geschieht, ist schon damals für Außenstehende schwer durchschaubar, läßt sich aus heutiger Perspektive nur erahnen. Wenn die weiterhin erscheinenden „Patienten-Infos“, die immer wütender, verzweifelter, entschlossener werden, einen Anhaltspunkt bieten, kommt es zu dem, was der spätere RAF-Terrorist Klaus Jünschke, damals SPK-Mitglied, in einem Interview 1985 „Radikalisierung und Brutalisierung“ nennen wird. Rektor Rendtorff wird 1995 ruprecht berichten: „Mitten in der Nacht rief Huber mich an. Er sagte: ‚Wir sitzen hier (im SPK) und haben Handgranaten. Wenn die Polizei kommt, sprengen wir das Ding in die Luft.'“
Die Spirale der Konfrontation ist nicht mehr aufzuhalten. Ob sie sich vornehmlich aus der Abwehrhaltung von Politik und Universität ergibt oder in dem revolutionären Grundansatz des SPK bereits vorgezeichnet ist, ist schon lange nebensächlich (und im übrigen kaum eindeutig zu entscheiden). Das SPK, das sich mit den Juden im Dritten Reich vergleicht, ist spätestens seit dem Selbstmord eines Mädchens aus der Gruppe im April 1971 überzeugt, daß der Staat nicht nur das Kollektiv als Institution, sondern auch die darin versammelten Kranken – im SPK-Jargon – „liquidieren“ will; die Polizei schließt nicht aus, daß der Suizid von der Gruppe forciert wurde, um deren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Daß sich im SPK nicht (wie bei den K-Gruppen) Aktivisten sammeln, die unter Berufung auf Marx, Mao und/oder einen anderen Denker die Gesellschaft verändern wollen, sondern Patienten, die sicher sind,nur eine Chance auf überleben zu haben, wenn sie Revolution machen, verschärft den Konflikt existentiell.
Ein rätselhafter Vorfall in den frühen Morgenstunden des 24. Juni 1971 ist der Auftakt zum letzten Akt des Dramas um das SPK: Gegen drei Uhr morgens schießen Unbekannte in Wiesenbach in der Nähe Heidelbergs auf einen Polizeiposten, der eine Verkehrskontrolle dürchführt, und flüchten. Da ein Zusammenhang mit der (noch „Baader-Meinhof-Gruppe“ genannten) RAF vermutet wird, schaltet sich das Bundeskriminalamt ein; obwohl 350 Beamte ihn suchen, ist der Schütze nicht zu finden. Dafür erscheint am nächsten Tag – es gibt Hinweise, Huber habe den Gesuchten zur Flucht verholfen – die Polizei beim SPK, durchsucht die Räume in der Rohrbacher Straße und Privatwohnungen und nimmt acht Mitglieder fest; zwei davon bleiben unter dem Verdacht der Unterstützung der RAF inhaftiert, die anderen, auch Huber, werden nach Verhören freigelassen.
Für das SPK ist klar: Die „endgültige Vernichtung“ des Kollektivs soll vorbereitet werden; klar ist auch: „Antwort“ kann „nur der totale Widerstand = Angriff“ sein. Das SPK – oder doch eine maßgebliche Gruppe darin – zeigt sich nun offen zur Militanz entschlossen; Waffen hat man auch schon besorgt. Als Strategie wird „ein Volkskrieg von sehr langer Dauer“ propagiert, der nach dem Vorbild des Vietcong als Guerillakrieg zu führen sei: „erst unbewaffnet, dann bewaffnet“. Am 13. Juli erscheint das letzte Flugblatt, auf dem die Buchstaben „SPK“ durchgestrichen und durch „RAF“ ersetzt sind; darunter eine Art Gedicht: „Wenn wir umzingelt sind, entweichen wir.“ Das SPK taucht ab.
Ende.
Jetzt geht alles ganz schnell: Ein Ex-Mitglied sagt bei der Polizei aus; am 21. Juli rückt die Polizei mit 300 Beamten und elf Haftbefehlen erneut in den SPK-Räumen und verschiedenen Privatwohnungen an. Bei den Durchsuchungen werden eine Ausrüstung zur Fälschung von Führer- und Kfz-Scheinen, mehrere Waffen, Munition und Sprengstoff gefunden. Für die Polizei, die das Kollektiv auch schon einige Zeit observiert hat, ist klar: „Eine Anzahl von Mitgliedern des SPK Heidelberg steht in dringendem Verdacht, sich zu einer kriminellen Vereinigung zusammengeschlossen zu haben, die zum Teil schon strafbare Handlungen begangen beziehungsweise geplant hat.“ Der „Spiegel“ kommentiert lapidar: „(Die) Kripo-Funde deuten sicher nicht auf einen normalen Praxis-Betrieb Hubers und seiner Genossen hin.“ Der Arzt und seine Frau werden zusammen mit fünf anderen verhaftet; andere SPK-Genossen tauchen unter. Viele der ehemaligen Patienten wenden sich traditionellen Therapieeinrichtungen wie der gerade eingerichteten Beratungsstelle des Studentenwerks zu oder gehen in keine Behandlung mehr. Und auch wenn ein „Informationszentrum Rote Volksuniversität“ weiterhin Propaganda für das Kollektiv macht (und, wie ruprecht erfuhr, versucht, Kämpfer für den Untergrund zu rekrutieren): Das SPK ist faktisch am Ende.
Die weiteren Ermittlungen der Polizei ergeben, daß im SPK ein „innerer Kreis“ um Dr. Huber existiert hat, der vor dem Rest der Mitglieder geheimgehalten wurde und aus ca. 12 Leuten bestand, die als „Stadtguerillatruppe“ arbeiteten; dieser Kreis, der sich regelmäßig in Hubers Haus in Wiesenbach getroffen habe, habe sich bewaffnet, vier eigene „Arbeitskreise“ – „Funktechnik“, „Sprengtechnik“, „Fototechnik“, „Karate“ – gebildet, Revolutionspläne geschmiedet und zur übung einige kleinere Anschläge verübt. Ab November 1972 folgen mehrere Prozesse gegen Mitglieder der Gruppe, in derem ersten Huber und seine Frau wegen „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Sprengstoffherstellung und Urkundenfälschung“ zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Auch die Approbation als Arzt verliert Huber – für den „outlaw der Psychiatrie“ („Stuttgarter Zeitung“) wohl eher Ehrung als Strafe.
Für nicht wenige aus der Gruppe indessen geht der Kampf in anderer Form weiter. Klaus Jünschke wird sich im Interview entsinnen: „Nach der Zerschlagung des SPK herrschte Verzweiflung, man mußte etwas tun.“ Seine Konsequenz: „Ein paar Monate später war ich bei der RAF.“ Ehemalige SPK-Mitglieder, die schon länger im Untergrund sind, nehmen Kontakt mit ihm auf, er erklärt sich bereit, „Einkäufe“ zu machen: Autonummernschilder, Wohnungen. Gudrun Ensslin gibt ihm den Codenamen „Spätlese“; er ist bei der „kämpfenden Truppe“ (Jünschke) angekommen. Für ihn, so wird er bemerken, ist es „keine Frage, als die RAF kam und sagte, machst du mit. Die Rote Armee aufbauen, Sieg im Volkskrieg“ – ähnliches hat er schon beim SPK gehört, wenngleich man bei seiner neuen Truppe von den Theorien des Kollektivs wenig wissen will, Ensslin verächtlich von den „SPK-Flippern“ spricht.
Gleichwohl tut wie Jünschke mehr als ein gutes Dutzend Leute aus dem Kollektiv und seinem Umfeld den Schritt zur RAF – ein Großteil der sog. „zweiten Generation“ der Terror-Gruppe. Ex-SPK-Mitglied Margrit Schiller etwa ist jene Frau, die verhaftet wird, kurz nachdem am 22. Oktober 1971 der Zivilfahnder Norbert Schmidt von einem Terroristen-Pärchen erschossen wird – der erste Polizeibeamte, der durch die RAF den Tod findet. Unter den sechs Terroristen, die 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm überfallen, ein Dutzend Geiseln nehmen und zwei davon mit Kopfschuß töten, bevor sie das Gebäude in die Luft sprengen, sind vier Ex-SPKler: Lutz Taufer, Bernhard Rössner, Hanna Krabbe und Siegfried Hausner. Auf ihrer Liste freizupressender Genossen steht auch Eberhard Becker, ehemals Anwalt des SPK. Elisabeth von Dyck, Ralf Baptist Friedrich, Sieglinde Hofmann, Friederike Krabbe schließlich, ehemalige SPK-Mitglieder auch sie, sind Teil der Truppe, die die RAF-„Offensive“ des Jahres 1977 – die Tragödie des „deutschen Herbstes“ – vorbereitet. Sie machen ihren eigenen „Volkskrieg“ – auch wenn sich das Volk damit begnügt, sachdienliche Hinweise zu ihrer Festnahme zu geben.
Epilog.
Wo Wolfgang Huber sich heute aufhält, wissen nur Eingeweihte. 1973 ruft er, noch aus seiner Stammheimer Zelle heraus, die „Patientenfront“ („PF“) aus, die er als „Rückkehr zu den Wurzeln“ des SPK versteht. Im Januar 1976 werden er und seine Frau aus der Haft entlassen; 1985 gründet sich in Mannheim die Gruppe „Krankheit im Recht“, die die SPK-Schriften verlegt, die SPK-Arbeit fortführt und gegen die „ärzteklasse“ kämpft. Sie hat auch Kontakt zu Huber, lehnt aber Gesuche um ein Interview ab. Huber sei „viel unterwegs“, heißt es, in Sachen Kampf gegen die „Iatrokratie“ (i.e. „Herrschaft der ärzte“); ein Kenner aus der linken Szene kommentiert: „Den Huber halten sie wie den Großen Alten Mann im Hintergrund.“
„Krankheit im Recht“ hütet auch die SPK-Geschichte – und tut es mit Verve: „Hände weg vom SPK“, verlautbart man; Presseanfragen, nicht nur die des ruprecht, werden zuerst zuvorkommend, dann aber zunehmend restriktiv (und schon mal mit einer Drohung) beantwortet. Dafür gibt die selbstgebastelte Historie dann den gewünschten Grund zur Freude: Das Ende des SPK im Juli 1971 sei nur ein „strategischer Rückzug“ gewesen, seit Hubers Entlassung sei die SPK/PF-Arbeit erfolgreich „auf alle Kontinente ausgeweitet“ worden, Huber stehe in einer direkten Ahnenreihe mit Hegel, Marx und Sartre.
Anfang dieses Jahres feiert man bei SPK/PF ein dreifaches Jubeldatum: 25 Jahre SPK, den 60. Geburtstag Hubers, 10 Jahre „Krankheit im Recht“. Zum Anlaß verfaßt die Front einen Text, der, von der Gruppe zur Hammondorgel selbst dargeboten, vom SPK-Verlag auf Tonbandkassette angefordert werden kann. Im Schlußrefrain singen die Patienten: „Fragst Du nach dem alten Huber, Huber, Huber / Fragst Du nach dem alten Huber / Ja, es ist der alte noch.“ (bpe)
Kurze Chronik des SPK
- 12. Februar ’70: Patientenvollversammlung in der Psychiatrischen Poliklinik Heidelberg gegen die drohende Entlassung des Assistenzartes Dr. Wolfgang Huber; kurz darauf wird der Arzt gekündigt.
- 2. März ’70: Nach Hungerstreik im Dienstzimmer des Verwaltungsdirektors der Universitätskliniken beziehen die Patienten von der Universität befristet finanzierte Räume in der Rohrbacher Str. 12 – die Geburt des SPK.
- Juni ’70: „Patienten-Info“ Nr. 1: „Genossen! Das System hat uns ‚krank‘ gemacht; geben wir dem kran-ken System den Todesstoß!“
- 6. Juli ’70: Mitglieder des SPK besetzen das Rektorat; ihre Forderung: „unbefristete überlassung“ von zwei Häusern mit je 10 Zimmern.
- 9. Juli ’70: Der Verwaltungsrat beschließt: SPK soll eine Einrichtung der Universität werden; es folgt ein Gutachterkrieg.
- 18. September ’70: Kultusminister Wilhelm Hahn erläßt eine Weisung gegen die Institutionalisierung des SPK.
- 24. November ’70: Der Senat beschließt: „Das SPK kann keine Einrichtung an der Universität werden.“
- 24. Juni ’71: Nach den „Schüssen von Wiesenbach“ führt die Polizei eine Razzia gegen das SPK durch; acht Mitglieder, darunter Dr. Huber und seine Frau, werden festgenommen.
- 2. Juli ’71: „Patienten-Info“ Nr. 49: „MAHLER, MEINHOF, BAADER – das sind unsere Kader!“
- 21. Juli ’71: Entscheidender Schlag der Polizei: Häuser werden durchsucht, insgesamt sieben SPK-Mitglieder verhaftet; Waffen und Munition werden gefunden.
- 19. Dezember ’72: Das Urteil im 1. SPK-Prozeß wird verkündet: Dr. Wolfgang Huber und Dr. Ursel Huber werden zu je 4 1/2 Jahren Gefängnis, Siegfried Hausner zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt (1974 entlassen, taucht er ab und geht – wie viele andere Ex-SPKler – zur RAF).
Stellungnahmen
- „Das SPK war ein offener und vielfältiger Prozeß, der am Ende über der panischen Abwehrreaktion der Machthabenden in Universität und Politik zur Sekte verkam, in der das Vorläufige, unfertig Erarbeitete zum Dogma wurde.“ – Lutz Taufer, ehem. SPK, RAF
- „Da, wo eine Gemeinschaft nach dem Paradies im Hier und Jetzt sucht, endet es in Jonestown. Ich bin in meiner Radikalisierung sehr intolerant geworden, damals. Es ist natürlich auch irre, gemessen am eigenen Anspruch, die Welt zu verändern, wenn man sich so brutalisiert.“ – Klaus Jünschke, ehem. SPK, RAF
- „Es wäre zu fragen, welchen Grad von Besonnenheit und Zielgerichtetheit ein politischer Kampf gewinnt, der von der Dynamik des Ausagierens unbewältigter psychischer Konflikte bestimmt wird.“ – Jörg Bopp, Psychotherapeut
- „Das SPK hatte eine totalitäre Struktur. Entweder man bekannte sich mit Haut und Haaren dazu, oder man wurde angefeindet – Zustände, wie man sie von Politsekten kennt.“ – Studentischer SPK-Zeitzeuge
- „Man müßte sich fragen, was aus dem SPK geworden wäre, wenn es an der Uni institutionalisiert worden wäre. Es hätte durchaus sein können, daß die Mitglieder zufrieden gewesen wären mit einem radikalen, auf die Psychiatrie und deren Revolutionierung bezogenen Konzept; es ist nicht unbedingt logisch, daß manche den Schritt zur RAF machten.“ – Michael Buselmeier
- „Die Geschichte des SPK ist eine Verfolgungsgeschichte, die gleichermaßen die Spuren eines vergeblichen inneren Bemühens um therapeutische Problembearbeitung und die Spuren der vergeblichen Mühe spiegelt, die Angriffe von außen abzuwehren.“ – Dieter Spazier/Jörg Bopp, Psychotherapeuten
- „Und was ist aus den Verfolgern des (SPK) geworden? Keiner ohne daraufhin gebrochene Karriere und viele inzwischen verstorben. Merkwürdig? Nein, zwangsläufig und wiederholbar.“ – Aus einer SPK-Chronik, 1995
- „Nichts, was meinen Widerwillen begründet, hat etwas zu tun mit ärztemoral, ärztegeschichten, ärztlichen Kunstfehlern oder mit ihrer Bereicherungssucht. Nichts mit Charakterstärke oder überlegenheit in eigener Sache, die ich mir selbst oder sonstwem noch zu beweisen hätte, sondern: Entweder ist die ärzteklasse die herrschende, die alles durchherrschende, die folglich weg muß, weil es schlecht läuft in der Welt, oder ich habe mich geirrt. Dann habe ich wenigstens für viele den Platz geräumt. Und es herrscht ja Ärzteschwemme.“ – Wolfgang Huber, November 1992
Literatur u.a.
Butz Peters, „RAF“; Margot Overath, „Drachenzähne“ (Dank); Stefan Aust, „Der Baader-Meinhof-Komplex“; Gerd Langguth, „Protestbewegung“; Wanda von Baeyer-Katte et al., „Gruppenprozesse“; Jörg Bopp, „Antipsychiatrie“ Quellen u.a.: „Dokumentationen zum SPK an der Universität Heidelberg“, Bd. 1-3; „Kleinkrieg gegen Patienten. Dokumentation zur Verfolgung des SPK Heidelberg“; SPK/PF/Huber, „über das Anfangen. Zur Vorgeschichte des SPK und der PF“; Klaus Jünschke, „Spätlese“; „brennpunkte“, Heft 7, Febr./März 1990; „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Dank ans Archiv); „Heidelberger Tageblatt“; „Unispiegel“; Zeitzeugen (Dank) Fotos: Welker
Das Ende des Experiments: Am 21. Juli 1971 durchsucht die Polizei, die Haftbefehle gegen 11 SPK-Mitglieder hat, auch Wohnungen in Heidelbergs Sandgasse, wo einige aus der Gruppe in Wohngemeinschaften zusammenleben.